#10 Nach der Abstimmung in Genf: Was das Recht auf digitale Unversehrtheit bedeutet
Der Kanton Genf erhält ein neues Verfassungsrecht auf digitale Unversehrtheit. Welchen Schutz verspricht dieses neue Grundrecht? Eine Einordnung von Timur Acemoglu.
Timur Acemoglu ist Rechtsanwalt und berät öffentliche Gemeinwesen in Fragen des E-Government-Rechts.
Kontext
Mit 94.21 % Ja-Stimmen hat die stimmberechtigte Bevölkerung des Kantons Genf am 18. Juni 2023 der Aufnahme eines neuen Rechts auf digitale Unversehrtheit in die Kantonsverfassung zugestimmt. Eine eindrückliche Mehrheit. Schon im Staatsrat war die Vorlage ohne Gegenstimmen verabschiedet worden. Der Kanton Genf nimmt diesbezüglich eine Pionierrolle ein.
Worum es geht
Bereits die Abstimmungsbroschüre des Kantons Genf räumt ein, dass das Recht auf digitale Unversehrtheit heute noch nicht präzise definiert ist. Als Anhaltspunkte für den Inhalt dieses Rechts können wir zunächst aber die vier Teilaspekte beiziehen, welche der neue Art. 21A der Genfer Kantonsverfassung nennt:
- das Recht auf Schutz vor missbräuchlicher Verwendung von Daten
- das Recht auf Datensicherheit
- das Recht auf Vergessen
- das Recht, offline zu leben
Diese vier ausdrücklich erwähnten Teilaspekte erscheinen zunächst nicht sehr revolutionär. Das Recht auf Schutz gegen missbräuchliche Verwendung von Daten ist bereits in Art. 13 Abs. 2 der Bundesverfassung verankert. Der zweite Teilaspekt, die Datensicherheit, ist vor dem Hintergrund aktueller Hackingangriffe bereits in aller Munde. Besonders bemerkenswert, fast schon erfrischend, ist der vierte ausdrücklich aufgenommene Teilaspekt: das Recht, offline zu leben. Ist dies die Keimzelle einer analogen Gegenbewegung in einer Welt, in welcher die Digitalisierung immer mehr Aspekte des Lebens durchdringt? Gilt das Recht nur im privaten Umfeld, oder auch beruflich? Welche Auswirkungen hat es auf die Obligatorien einer Nutzung elektronischer Technologien, welche in den nächsten Jahren eingeführt werden sollen, zum Beispiel das Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ)?
Recht auf digitale Unversehrtheit in der Bundesverfassung
Auch auf Bundesebene ist ein parlamentarischer Vorstoss hängig, mit welchem das Recht auf digitale Unversehrtheit neben dem Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit in Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung aufgenommen werden soll. Die Beziehung und Wechselwirkung eines Rechts auf digitale Unversehrtheit mit der körperlichen und geistigen Unversehrtheit ist in der Rechtslehre ein zentraler Gegenstand des Diskurses. Kritiker bemängeln insbesondere, dass es auch im digitalen Umfeld am Ende um eine Beeinträchtigung der psychischen oder physischen Integrität geht, welche bereits verfassungsmässig geschützt ist, wie dieser Artikel von inside-it.ch aufzeigt.
Solche Überschneidungen von Grundrechten der Bundesverfassung sind nicht neu.
So sichert beispielsweise Art. 12 BV das menschenwürdige Dasein in ökonomischer Sicht, während die Menschenwürde bereits durch Art. 7 BV (Schutz der Menschenwürde) grundrechtlichen Schutz geniesst. Der Grundrechtsgehalt des Rechts auf digitale Unversehrtheit dürfte zudem über die blosse Abwehr von Eingriffen gegen die körperliche und geistige Unversehrtheit hinausgehen, wie das Beispiel des Rechts, offline zu leben zeigt. Das Recht, offline zu leben, wie es neu in die Genfer Kantonsverfassung aufgenommen wurde, steht Menschen per se und unabhängig von einer potenziell drohenden Verletzung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit zu.
Verfechter der digitalen Unversehrtheit sehen diese übrigens nicht zwangsläufig als gleichberechtigt mit der körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Gemäss Johan Rochel, Doktor der Rechtswissenschaften und Philosoph an der Hochschule EPFL, schützen die körperliche und die geistige Unversehrtheit die Mittel und Funktionen des Menschen, um mit seiner Umwelt in Beziehung zu treten, und autonom als Mensch Erfahrungen zu sammeln. Die digitale Unversehrtheit hat demgegenüber nicht denselben elementaren Stellenwert. Sie dient vielmehr als Bindeglied oder «Vektor», um diesen Grundrechten bei der Nutzung digitaler Technologien Geltung zu verschaffen, indem Sie auf spezifische Gefahren hinweist, indem sie hilft, Schutzmassnahmen festzulegen und zu etablieren, und indem Sie als Hintergrund der Diskussion dient, um Ziele zu formulieren und die bestehenden Normen auszulegen.
Paradigmenwechsel
Erklärtes Ziel der Befürworter eines Rechts auf digitale Unversehrtheit ist aber nichts geringeres als ein Paradigmenwechsel. Da Daten flüchtig sind und an verschiedenen Orten gespeichert und bearbeitet werden können, sind wir heute gar nicht in der Lage, die Ausbreitung und Verwendung unserer Daten präzise zu kennen. Aus diesem Grund stossen die heute bestehenden Datenschutznormen, deren Schutzmechanismus im Wesentlichen ein komplexes Wechselspiel von Rechtmässigkeit und Zweckgebundenheit der Bearbeitung, Einwilligung und Information sowie von Auskunftsrechten darstellt, weitgehend ins Leere. Die Anerkennung eines Grundrechts auf digitale Unversehrtheit soll demgegenüber dazu beitragen, dass personenbezogene Daten als konstitutive Elemente der menschlichen Person angesehen werden, auf welche die Person grundsätzlich unveräusserliche Rechte besitzt.
Dies wurde in einer Resolution der Französischsprachigen Vereinigung der Datenschutzbehörden (AFAPDP) aus dem Jahr 2018 bereits postuliert. Als Konsequenz davon muss die Person stets die Kontrolle über ihre Daten haben, und eine Drittnutzung solcher Daten (beispielsweise zum Training von KI und Algorithmen) wäre nicht erlaubt, ausser es liegt eine ausdrückliche Erlaubnis der betroffenen Person vor.
Offen bleibt – wie immer – wie solche Rechte konkret in der Praxis umgesetzt und durchgesetzt werden können, und welche Bedeutung ein solcher Paradigmenwechsel angesichts unseres alltäglichen Umgangs mit Technologie überhaupt haben wird.
Sinnvolle Ergänzung des Grundrechtskatalogs
Ein verfassungsmässiges Recht auf digitale Unversehrtheit ist eine sinnvolle Ergänzung des Grundrechtskatalogs, um den Stellenwert personenbezogener Daten stärker zu betonen, und so nicht nur der Datenverarbeitungsindustrie, sondern auch den Nutzenden selbst den Wert der personenbezogenen Daten stärker bewusst zu machen, und um als Ausgangspunkt zur Erarbeitung weiterer Rechtsnormen und Massnahmen sowie für die Diskussion und die Auslegung bestehender Normen zu dienen.
Ein solches Recht auf digitale Unversehrtheit beinhaltet auch das Recht, die eigenen Daten und die elektronische Kommunikation bestmöglich zu schützen, beispielsweise durch Verwendung einer Ende-zu-Ende Verschlüsselung. Dies mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber bei Weitem nicht. So sollen in der EU aktuell Diskussionen zu Gesetzgebungsprojekten bestehen, um die Nutzung von Ende-zu-Ende Verschlüsselung zu schwächen oder zu verbieten.
Solche Vorstösse dürften regelmässig Auftrieb erhalten, wenn – beispielsweise durch Terrorangriffe oder die Zunahme von Kriminalität im Netz – die Bedürfnisse der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden ins Zentrum rücken. Mit der Konsequenz, dass sich Personen verdächtig machen, welche zum Schutz ihrer persönlichen Daten beispielsweise Messenger mit Ende-zu-Ende Verschlüsselung verwenden. Ein Grundrecht auf digitale Unversehrtheit kann dazu beitragen, solchen Entwicklungen vorzubeugen, und die berechtigten Interessen von uns Nutzerinnen und Nutzern digitaler Technologien ins rechte Licht zu rücken.
Literaturhinweise
Rainer J. Schweizer, St. Galler Kommentar zur BV, Vorbemerkungen zu Art. 7-36, Rz 12 ff
Johan Rochel, L’intégrité numérique dans la Constitution : Entre liberté et technologies numériques, in : Le droit à l’intégrité numérique, Réelle innovation ou simple évolution du droit ?
Alexis Roussel, Le droit à l’intégrité numérique de la personne, in: Le droit à l’intégrité numérique, Réelle innovation ou simple évolution du droit ?